Sunday, May 2, 2010

Musik als "Klangkörper"

Vor kurzem hatte ich ein Musikerlebnis völlig neuer Art, gleich in zweierlei Hinsicht: mein erstes Konzert in der Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker und eine tief bewegende, neue Erfahrung der der Matthäuspassion von Bach. Simon Rattle und Peter Sellars zeigten dabei mit ihrer "Ritualisierung", dass Musik mehr sein kann als "Klangrede", nämlich Ausdruck des ganzen Körpers, nicht nur der Stimme, und dass damit auch die Stimme neue Qualitäten gewinnt.
Nikolaus Harnoncourt hatte die barocke Idee der Klangrede ende der 60er Jahre dem romantisierenden Musikbrei vieler damaliger Aufführungen entgegengeschleudert (Auslöser war ebenfalls eine Aufführung der Matthäuspassion, aber damals im überkommenen Klangbild). Er hat sich damit, zusammen mit inzwischen unzähligen weiteren Musikern (von den ernsthafteren Mitteleuropäern bis zu den vergnügteren Engländern) gewaltige Verdienste erworben und der Generation der durch Karajan et al. von klassischer Musik eingelullten oder gar abgeschreckten eine solche von (mehr) Zuhörern folgen lassen.
Die Aufführung in Berlin am 11. April 2010 (der eine ähnliche an den Salzburger Osterfestspielen vorausgegangen war) kommt mir nun aber als neuerliche Revolution in unserem Verständnis "alter" Musik vor. Das Pendel der historischen Musikpraxis hatte in vielen Fällen zu weit in Richtung blutleerer, kopflastiger und manchmal freudloser Musikinterpretationen ausgeschlagen, bei denen Gefühle "klangzerredet" werden konnten. Es gab deshalb schon einige radikale Korrekturversuche, etwa John Neumeier's, aus meiner Sicht eher missglückte, Zertanzung des Weihnachtsoratoriums. Die enorm sinnliche, emotionale, genial inszenierte und gleichzeitig ganz verinnerlichte Ritualisierung der Matthäuspassion durch Sellars weist für mich nun aber auf ein neues Musikverständnis für dieses und vielleicht kommende Jahrzehnte hin. Rattle hat dieses, zusammen mit dem grossartig und fast ganz auswendig singenden Rundfunkchor (der das Werk noch nie zuvor gesungen hatte!) und den fabelhaften Solisten (mich beeindruckten besonders Mark Padmore als Evangelist, Camila Tilling und natürlich Thomas Quasthoff), sowie den kernig musizierenden und mit den Sängern interagierenden Philharmonikern in eine beglückende Aufführung umgesetzt.
Dass deren Grundidee dem "Body in the Mind" Semantik-Verständnis unserer Forschung entspricht (Bedeutung kommt zustande durch physische Erfahrung), ist wohl kein Zufall. Was die alte Musik betrifft sind wir damit in der Entwicklungsspirale der Interpretationen wieder näher bei Richter, ohne dabei die Durchsichtigkeit und Artikulation von Harnoncourt, Leonhardt, Herreweghe, Gardiner und anderen zu verlieren.
Dass mir ausgerechnet mein erster "digitaler Konzertbesuch" eine solch körperliche Interpretation und Erfahrung von Musik vermittelte, ist allerdings etwas paradox. Unser zunehmend digitalisiertes Leben ersetzt immer mehr körperliche Erfahrung durch virtuelle. Gerne wäre ich für die Aufführung in der grossartigen Berliner Philharmonie gesessen. Anderseits haben die wunderbaren Nahaufnahmen und der von Hustern und Programmheftblättern ungestörte Musikgenuss zuhause im Lehnstuhl eben auch sehr viel für sich - besonders im Konzertsaal-entbehrenden Münster. Wärmstens empfohlen sei deshalb der trailer oder auch das Nacherleben der ganzen Aufführung für schlappe 10 Euro.